Mittwoch, 10. November 2010

Warum eigentlich Rockumentary??

Seit Jahren beschäftige ich mich nun schon mit Rockmusifilmen und leite gemeinsam mit Prof. Wulff und einer fleißigen Redaktion das Rockumentary-Projekt. Aber was ist daran eigentlich interessant?, fragt man mich gerne... hier einfach das Vorwort unseres Lesebuchs (Erster Teil) als kleine Einführung und Erklärung:


Nahezu unbeachtet von Film- und Musikwissenschaft hat sich mit dem Rockmusik-Dokumentarfilm und seinen verschiedenen Untergattungen in den letzten vierzig Jahren eine neue Gattung des Musikfilms entwickelt. Nur wenige Jahre, nachdem die Rockmusik populär und zugleich ein wichtiger und ökonomisch einträglicher Zweig der Musikindustrie geworden war, als klar war, dass Rockmusiker nicht nur riesige Plattenumsätze erzielen, sondern auch große Hallen füllen konnten, und als es zudem gelang, mit den Open-Air-Konzerten nicht nur große Publika zu aktivieren, sondern damit eine ungemein hohe öffentliche Aufmerksamkeit zu gewinnen, wurden die Akteure der Rockmusik ebenso zu einem Gegenstand dokumentarischen Interesses wie die Tourneen, Konzerte und Festivals, die Fankulturen, manchmal sogar die Organisatoren der Veranstaltungen.
Die Bezeichnung Rockumentary, die heute oft als Gattungsname verwendet wird, ist ein Kunstwort aus rock und documentary. Es wurde wohl zum ersten Mal in Rob Reiners Mockumentary THIS IS SPINAL TAP (1984) erwähnt, lange nachdem die Filme in regelmäßiger Folge im Kino gelaufen waren und nicht nur das Interesse von Musikfans, sondern auch von Cineasten gefunden hatten. Die Bezeichnung weist zurück auf die Blütezeit des Direct Cinema, in der nicht nur einige Porträts von Dirigenten und Pianisten sowie Aufzeichnungen klassischer Konzerte entstanden, sondern in der vor allem in den USA Rock-Musiker und ihre Konzerte ein beliebtes dokumentarisches Sujet waren. Die Filme fanden ein hochstrukturiertes vorfilmisches Ereignis vor, in das sie sich nach Art der Programmatik des Direct Cinema einschmiegen konnten. Sie verbanden meist Bilder der Bühnenshows, Aufnahmen des Publikums, manchmal Interviews mit Beteiligten und atmosphärische Bilder der Geschehnisse am Rande des Konzerts. LONELY BOY (USA 1961, Roman Kroiter, Wolf Koenig) über Paul Anka ist der wohl erste Film in dieser Art. D.A. Pennebakers Bob-Dylan-Film DON‘T LOOK BACK (USA 1966), sein Konzert-Film MONTEREY POP (USA 1967) und vor allem Michael Wadleighs mit großem Aufwand gedrehte Dokumentation WOODSTOCK (USA 1970) brachten einen enormen wirtschaftlichen Erfolg und stießen eine ganze Reihe weiterer Filme an. Dazu rechnet die Dokumentation des desaströsen Auftritts der Rolling Stones 1969 in Altamont, bei dem ein Ordner der Hell‘s Angels einen Besucher erstach (GIMME SHELTER, USA 1971, David Maysles, Albert Maysles, Charlotte Zwering). Äußerst erfolgreich war auch Martin Scorseses Film THE LAST WALTZ (USA 1978) über das Abschiedkonzert von The Band. Obwohl Filme im Stil der Rockumentaries immer noch weiter produziert werden (man denke an Jonathan Demmes Talking-Heads-Film STOP MAKING SENSE, USA 1984), feierte Rob Reiner in der Pseudo-Dokumentation THIS IS SPINAL TAP (USA 1984) einen parodistischen Abgesang auf die erste Hochphase des Genres.
In den 1980er Jahren wurde die Rockkonzert-Dokumentation nicht nur zu einem Standardformat des Fernsehens (in Deutschland z.B. zu solchen seriellen Sendeplatz-Formaten wie dem seit 1974 produzierten ROCKPALAST zusammengefasst). Eine große Anzahl von Konzertaufzeichnungen - vor allem in Form der (film-)ästhetisch meist anspruchslosen Livemitschnitte - haben einen eher protokollarischen Anspruch und sind oft nur minimal bearbeitet (darin manchen Theater- und Opernaufzeichnungen verwandt). Die Konzertaufzeichnung dieser Couleur ist eine Fernsehgattung, spielt im Kino keine Rolle; sie setzt das Radio-Konzert mit audiovisuellen Mitteln fort. Mediengeschichtlich ist der Übergang vom Rockumentary zur Konzert-Dokumentation interessant, weil er erst zu Zeiten des Übergangs zur Verbreitung des Home-Videos einsetzt: Erst nun entsteht der Video- und später DVD-Markt als Markt eines neuen Verbreitungsmediums der Musik. Nun wachsen Musik- und Film-/Fernsehindustrie endgültig zusammen. Ursprünglich vor allem zur Verbreiterung des Publikums gedacht und live ausgestrahlt, ist die Konzertdokumentation inzwischen eine der Archivierungs- und Nutzungsformen des Musikmarktes. Es entstanden der Tournee-Film und der Porträtfilm als Varianten des Rockkonzertfilms. Es wurden eine ganze Reihe von Rock-Musikern in Aufnahmen porträtiert oder dokumentiert, die während einer oder mehrerer Tourneen gemacht wurden. Angefangen von ABBA: THE MOVIE (Schweden 1977, Lasse Hallström) über die Australien-Tournee der schwedischen Gruppe, Mitte 1977, über Paul McCartneys GET BACK (Großbritannien 1991, Richard Lester) bis zu UNTERWEGS - DIE HERBERT GRÖNEMEYER-TOUR 2007 (BRD 2007, Ulrich Stein) reichen die Beispiele. Die wenigsten dieser Filme werden im Kino gestartet, sondern sind heute als Video- oder DVD-Kopien einer der festen Vertriebswege der Rock- und Popmusik. Um
so überraschender sind in jüngster Zeit Filme wie das Biopic CONTROL (Großbritannien 2007, Anton Corbijn) über den Sänger Ian Curtis der Band Joy Division oder Martin Scorseses SHINE A LIGHT (USA 2008) über die Rolling Stones, die mit großem Erfolg im Kino ausgewertet wurden.
Es ist das Anliegen des Rockumentary-Projektes, eine erste Sichtung der Menge und der Vielfalt der inzwischen sehr umfangreichen Videothek der Rockmusik-Filme vorzunehmen. Vor allem anhand von kurzen Porträts und Analysen einzelner Filme, aber auch von Übersichtsdarstellungen zu einzelnen Musikern und Musikrichtungen, den wichtigsten Regisseuren der Gattung und einzelnen dokumentarischen Formaten sowie von detaillierteren Analysen soll nicht nur der Bestand gesichert, sondern auch das Problem der Analyse von Rockfilmen angesprochen werden, die sich den meisten Verfahren der traditionellen Filmanalyse gegenüber eher als sperrig erweisen.
Das Projekt ist in progress - darum versteht sich dieses Vorwort auch als Einladung an unsere Leser, sich mit eigenen Beiträgen zu beteiligen, die wir regelmäßig in den Kieler Beiträgen zur Filmmusikforschung vorstellen werden. Die Artikel selbst werden auf der Homepage der Kieler Filmmusik-Gruppe (www.filmmmusik.uni-kiel.de) langfristig zugänglich bleiben.
Wir bedanken uns bei allen Autoren, den Mitgliedern der Projektgruppe und bei den festen Mitgliedern der Redaktion Kerstin Bittner, Janwillem Dubil, Julia Fendler, Frederike Kiesel, Patrick Kraft und Imke Schröder
Wir bedanken uns außerdem bei der Firma Aktiv Musik Marketing (AMM), die uns zahlreiche DVDs für unsere Arbeit zur Verfügung gestellt hat.

Kiel, im März 2010
Susan Levermann
Patrick Niemeier
Hans J. Wulff

Archiv der Filmanalysen: ARCHIV FILMANALYSEN

Donnerstag, 4. November 2010

Einfach mal eine Musikempfehlung "Talking to turtles"

10 Tage Homerecording in einer 20 qm großen Wohngemeinschaft in Berlin, freiwilliger Abschluss von der Außenwelt – so entstand das erste Album von Claudia Göhler und Florian Sievers, die man gemeinsam als Talking to Turtles seit ihrem EP Debut im Jahre 2008 kennt. Herausgekommen sind emotionale, zarte, unpolierte Song-Miniaturen. „Monologue“ ist gelebtes Lo-Fi und Do it yourself auf hohem Niveau. Zum Teil erinnert das an den gefeierten, oscarausgezeichneten Soundtrack zum Film “Once” vom Duo The Swell Season. Mal melancholisch, mal dramatisch, mal kippt die Stimme fast, mal jubilieren unsere beiden Protagonisten. Das Album scheint Geschichten zu erzählen, die man nur in diesem Rahmen erzählen kann. Diese werden durch Melodien angereichert und so weitergetragen. Das Alles bietet einen sehr intimen Rahmen. „Monologue“ ist eine persönliche Einladung der beiden Musiker in ihr Leben und ihre WG. Jeder Freund von sensiblen Songwriter-Perlen ohne Filter, der darf eintreten und für ein paar Songs zu Gast sein. Das Duo selbst lernte im Verlauf des Albums nach eigener Aussagen, dass es eigentlich nicht „Do it yourself“ sondern „Ask your friendes“ heißen müsste. Vielleicht war es diese Erkenntnis, die sie Lieder von zum Teil entrückter Schönheit schaffen ließ. Wenn sie auf dem nächsten Album noch ein paar Freunde mitmachen lassen, wie sie angekündigt haben, könnten sie die deutschen Arcade Fire werden. Diese Potential zeigt schon „Monologue“.

(Von mir geschrieben und zuerst veröffentlich für, auf und in Allmymusic AMM - Magazin).
www.allmymusic.de